Der Hof in Morschenich (© Zeichnung: U. Thiel)

Ulrike Thiel kommt aus Norddeutschland. Vor vielen Jahren ist sie nach Morschenich auf einen großen Hof gezogen, der saniert werden musste. Sie hat sich in das kleine rheinische Dorf verliebt. Im Laufe der Jahre hat Ulrike Geschichten über Morschenich geschrieben. Das folgende Vorwort und die geSCHICHTE „Ein neues Zuhause“ sowie „Tristan und der Karnevalszug“ wurden bereits 2023 im Buch „Tristan“ beim Verlag Shaeker Media veröffentlicht. 

Vorwort der Autorin

Geschichten für Kinder im Alter von neun bis elf Jahren und für Erwachsene, die das Kind in sich bewahrt haben. Geschrieben zu einer Zeit, als dieses kleine rheinische Dorf mit Namen Morschenich, in dem alles geschah, noch bewohnt war.

„Ein neues Zuhause“

Nach einigen Monaten des Suchens fanden Lisa und Günter in einem kleinen Dorf im Rheinland einen geeigneten Hof. Es hieß Morschenich und erinnerte Lisa an das Dorf von Asterix und Obelix, dass die Römer nie erobert hatten. Dieses Dorf lag idyllisch zwischen Feldern, auf denen Rüben, Gerste, Hafer und Roggen prächtig gediehen. Dahinter erstreckten sich kleinere und größere Wälder, in denen sich im Herbst Wildschweine und Rehe an Bucheckern sattessen konnten und sich im Frühjahr der Duft der Maiglöckchen ausbreitete, die dort üppig wuchsen. Im Westen des Dorfes lag der alte Buchenwald, der Hambacher Forst, der so groß war, dass man etliche Stunden brauchte, um durch ihn hindurchzureiten. Am späten Nachmittag erreichte die Sonne diesen Wald und versank hinter ihm wie ein glühender Feuerball, den Himmel rotviolett färbend.

Das war der Lieblingsplatz der Dorfkinder, auch deswegen, weil es dort ein bisschen gruselig war, denn die Erwachsenen des Dorfes erzählten von Feen und Kobolden, die dort wohnten und Schabernack mit den Menschen trieben, wenn sie durch den Wald spazierten. Bei Vollmond hörte man Jaulen, Heulen, Pfeifen und Jammern. Dort bauten die Kinder Baumhäuser, gruben Höhlen aus, in denen sie sich versteckten, oder sie spielten Robin Hood, der gegen das Böse in der Welt kämpfte. Im Sommer kamen sie erst spät nach Hause, ziemlich schmutzig, aber glücklich; denn auch an diesem Tag hatte wieder das Gute gesiegt.

Die Erwachsenen des Dorfes kämpften nicht mehr gegen das Böse in der Welt, sie saßen lieber gemütlich unter den schattenspendenden Bäumen in den schönen Gärten, um mit den Nachbarn die Neuigkeiten auszutauschen, von denen es, ehrlich gesagt, nicht viele in diesem Dorf gab. Oder aber sie tauschten sich über die Zäune hinweg zu den, wie sie meinten, wirklich wichtigen Dingen des Lebens aus, wie über das Wetter, das Wachstum der Kartoffeln, wie wenig Äpfel es in diesem Jahr doch gab oder ärgerten sich über das Perlhuhn von Frau Schmitz, das von morgens bis abends krächzte und sich so anhörte, als würde es gerade ein Metallrohr durchsägen. Man verstand sich in der Nachbarschaft, war froh, gerade diesen Nachbarn zum Nachbarn zu haben, und zwischen den Blicken, sozusagen über die Kartoffeln hinweg, schwang sich der Ausdruck von Verständnis und Sympathie. Man kannte sich und die Schwächen des anderen, über die man aber nur hinter vorgehaltener Hand sprach, mit dem Zusatz: „Das bleibt aber unter uns“, worauf man sich aber nie verlassen konnte.

Am späten Nachmittag oder samstags hörten die Menschen ein Hämmern und Sägen, hier wurde geschraubt, gedübelt und gezimmert. Ja, in diesem beschaulichen Dorf wurde sehr viel gebaut, vielleicht ein neuer Kaninchenstall, eine Garage, ein Gehege für Hühner oder ein neuer Taubenschlag von Herrn Schmitz. All das geschah natürlich, ohne jemals eine Baugenehmigung eingeholt zu haben; denn in diesem Dorf machte jeder selbstbewusst genau das, was er für richtig hielt und das reichte nach ihrem Verständnis von Ordnung vollkommen aus.

Viele entscheidender war die Frage, und das wurde ausgiebig diskutiert, ob man zu den Hühnern nicht doch noch einen Hahn dazu holen sollte.´Erst am Abend, wenn die Glocken der alten Kirche läuteten, kehrte Ruhe ein und auch die Unermüdlichsten beendeten für diesen Tag erst jetzt ihre Arbeit. Dann wurde es still in diesem kleinen Dorf und die Fledermäuse und Eulen begannen ihre nächtliche Jagd nach Futter. In dieses Dorf zogen Lisa und Günter mit ihren Pferden Mausi und Schätzelein, den Hunden Lea und Joey und der Katze Sabber … und wenig später kam Tristan hinzu.

„Tristan und der Karnevalszug“

Einige Monate waren vergangen und Tristan hatte sich gut eingelebt. Die anderen Tiere akzeptierten ihn so, wie er war, etwas anders als die Gänse, die sie kannten, fanden sie. Er konnte, so bezeichnen das die Menschen, ganz und gar authentisch sein. Der Traum von einem besseren, selbstbestimmten Leben schien sich zu erfüllen und in diesem Bewusstsein schritt er oft singend und tanzend vor Glückseligkeit über den gepflegten Innenhof. Besonders freute er sich auf die Abende, wenn Günter in seinem ausladenden Fernsehsessel Platz nahm, wohlverdient und erschöpft von den Mühen des Tages, Sabber von seinem Schoß verscheuchte, Tristan sich dann daneben hockte und beide fernsahen. Das war die
Krönung seines Tages und so unglaublich gemütlich, fand er.

An diesem Abend berichtete man über den Karneval in Rio. Meine Güte, dachte Tristan, welch unglaubliche Kostüme! Manche Mädchen trugen auf ihren Köpfen riesige Federkronen, von ihren Schultern hingen schwere Flügel herab und er war davon überzeugt, dass sie sich wohl als Gänse verkleiden wollten. Allerdings, kritisch wie er nun einmal sein konnte, nicht in jedem Fall gelungen. Jedenfalls sah alles farbenprächtig aus und in ihm reifte der Wunsch, nein, man kann schon behaupten, geradezu eine Sehnsucht, beim Karnevalszug, der alljährlich durch das Dorf zog, mitzugehen. Es sollte ein Kostüm werden, das zuvor noch niemand jemals getragen hatte, ein zutiefst beeindruckendes, so außergewöhnlich, dass es – und er als Träger – in die Geschichte des Dorfes einginge. Und später würden die Dorfbewohner, sich an vergangene Zeiten erinnernd, sagen: „Ach wisst ihr noch, unser Tristan!“ Tristan grübelte: Meistens trugen die Leute Bären-, Teufel- oder Hexenkostüme und die Einfallslosen setzten sich doch zumindest eine Perücke auf den Kopf und eine rote Kugel auf die Nase. Er aber glaubte, das genüge nicht, um in die Geschichte des Dorfes einzugehen – er wollte sich als Strohballen verkleiden!

Vor diesem bewussten Tag, an dem der Zug durch das Dorf ziehen würde, bekam er nachts vor Aufregung kein Auge zu und schlich früh morgens – die anderen schliefen noch – in die Scheune, um sich dort, seinen hohen Ansprüchen genügend, einen Strohballen auszusuchen, der nicht grau verwittert, sondern goldgelb glänzte. In freudiger Erregung rupfte er hektisch aus den Ballen seiner Wahl Halm für Halm heraus und steckte sie sich wüst ins Gefieder, was Stunden dauerte. Nur sein Kopf und seine Beine schauten noch heraus.

Tristan auf dem Weg zum Zug (© Zeichnung: U. Thiel)

Dann endlich hörte er den herannahenden Karnevalszug. Der Zug sah herrlich aus. Die Dorfbewohner zogen ihre karnevalistisch bunt geschmückten Bollerwagen hinter sich her. Sie selbst trugen die üblichen roten Nasen im Gesicht, die grünen Perücken und bunten Kostüme. Auch Billa, die alte Witwe, die eigentlich zurückgezogen lebte, ging mit und hatte offensichtlich ihren Spaß. Die Feuerwehrkapelle spielte ohrenbetäubend laut Karnevalslieder, und die Leute sangen ausgelassen mit, wobei nicht jeder Ton getroffen wurde. Das aber trübte die gute Stimmung in keiner Weise.

Über und über mit Halmen bestückt schritt Tristan aus dem Hoftor hinaus und reihte sich mit hoch erhobenem Kopf und stolzgeschwellter Brust in den Zug ein – er fühlte sich großartig. Seine Laune konnte nicht besser sein und so wiegte er seinen Körper im Rhythmus der Musik, fleißig mitkrächzend. Nur kurzzeitig, nämlich bei dem Lied „es steht ein Pferd auf dem Flur“, verließ ihn seine gute Laune, weil er Pferde, wegen ihrer großen Hufe, vor denen er sich ständig in Acht nehmen musste, nicht ausstehen konnte. Immer wenn er sich in ihrer Nähe aufhielt, fürchtete er, sie könnten auf ihn treten. Dann endlich, Tristan schritt nicht mehr, sondern schlurfte vor Erschöpfung nur noch so dahin, erreichte der Zug das Feuerwehrhaus, in dem die Party stattfinden sollte.

Dort hatten sich bereits einige Dorfbewohner eingefunden, die sich in den Armen lagen, schunkelten und dabei das Lied „Griechischer Wein“ sangen, und das immer und immer wieder. Durstig stürzte Tristan sich auf die Schale, die unter dem Bierfass stand, und schlürfte den gesamten Inhalt gierig aus, wobei er eigentlich nicht wusste, was es war. „Herrlich, dieser Tag“, dachte er noch, bevor er spürte, dass mit seinem Kopf irgendetwas nicht in Ordnung war. Denn er bemerkte plötzlich ihm völlig unbekannte Sterne, eine Ansammlung von unendlich vielen Mäusen, Osterhasen, Weihnachtsmännern und das Gefühl zeitweise fliegen zu können. Und weil sich sein Zustand mehr und mehr verschlechterte, beschloss er, vernünftig wie er sein konnte, auf den Hof zurückzukehren.
Dort legte er sich in Fritzis Korb, versah aber vorher seinen Kopf noch mit einem Eisbeutel – das hatte er des Öfteren schon mal bei Günter gesehen –, schlief ein und träumte:

Er würde den Karneval revolutionieren, ökologisch und nachhaltig müsste er sein, ganz im Geist der Zeit, die Menschen sollten sich nur noch als Zuckerrübe, Kartoffel oder Sellerie verkleiden. Er wünschte sich mehr Krimis, vielleicht auch solche, über die man lachen konnte. Tristan kannte so eine Krimiserie, die hieß „Mord mit Aussicht“ und spielte in der Eifel. Da war auf dem Telefonhörer des Kommissars ein Plüschhund befestigt. Das fand Tristan total komisch. Erst am nächsten Morgen kam er zu sich, das Eis im undichten Beutel, der sich auf seinem Kopf befand, war längst geschmolzen. Er lag in einer kalten Wasserlache, was ihn aber nicht weiter störte. Tristan war immer noch begeistert von seinen Ideen, die er allen anderen Hofbewohnern natürlich sofort mitteilen musste – und stolz und überzeugt war er – er, Tristan, würde in die Geschichte des Dorfes als Revolutionär eingehen und sicherlich würde man ihm auf dem Dorfplatz ein Denkmal setzen, gefördert vom Land NRW. Tristan hatte nämlich gehört, dass vom Land sehr viele wichtige Projekte gefördert werden.

Wer wissen möchte, welche Abenteuer die Bewohner*innen des Hofs noch erleben, kann „Tristan“ über den Buchhandel beziehen (ISBN 978-3-95631-985-3).

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