Das letzte Schützenfest Fest in Keyenberg (alt), 2019 (© Foto: G. Wessel)

Der Ort Keyenberg, Stadtteil von Erkelenz, liegt im Rheinischen Braunkohlerevier und befindet sich in einem Prozess des Strukturwandels. Im Jahr 2016 erhielten der Ort und seine umliegenden Dörfer Berverath, Kuckum, Ober- und Unterwestrich den Umsiedlungsstatus. In den folgenden Jahren verkaufte ein Großteil der Bewohner*innen ihre Häuser an den Bergbaubetreiber RWE und siedelte an den gemeinsamen Umsiedlungsort Erkelenz-Nord um. Dort wurden die Orte Keyenberg (neu), Berverath (neu), Westrich (neu) und Kuckum (neu) gegründet.

Bis Ende 2022 war vorgesehen, dass die Kohle unter Keyenberg ab 2026 abgebaut werden sollte. Mit dem vorgezogenen Ausstieg aus der Kohleverstromung 2030 (Beschluss vom Dez. 2022) wird die Kohle unter dem Ort und seinen Nachbarorten als energiepolitisch und wirtschaftlich nicht mehr notwendig erachtet. Damit ist auch der Anlass für die weitere Umsiedlung der Bevölkerung entfallen. Das Paradoxe: Alle involvierten fünf Orte existieren aktuell doppelt – einmal als alte, zum Großteil leergezogene Dörfer, und einmal mit dem Namenszusatz (neu) als Ortsteile im Neubaugebiet Erkelenz-Nord, in das bis Ende 2021 61 % der Bewohner*innen umgesiedelt sind.

Der jahrelange Prozess der Umsiedlung, die Entscheidung zu Gehen oder zu Bleiben, betraf nicht nur Privatpersonen und Gewerbetreibende, sondern auch das gesellschaftliche und kulturelle Leben, insbesondere das Vereinsleben. Für den betroffenen Ort Keyenberg stellt die St. Sebastianus-Schützenbruderschaft gegr. 1449 e.V. eine für die Bewohner*innen identitätsstiftende Gemeinschaft dar. Betrachtet man die Bruderschaft als Träger des immateriellen Kulturerbes – denn als das ist das Schützenwesen von der Deutschen UNESCO-Kommission seit 2015 ausgezeichnet – so wird in Strukturwandelprozessen neu verhandelt, was zum kulturellen Erbe einer Region zählt. Und das Schützenwesen hat in Deutschland nach wie vor einen hohen Stellenwert: Etwa zwei Millionen Menschen sind aktuell in Schützenvereinen aktiv.

Im Mai 2019 wurde das letzte Fest im Altort als Bezirksschützenfest und Jubiläum groß gefeiert: Diesen Umstand nahm das LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte zum Anlass, eine Filmdokumentation über die Keyenberger Schützenbruderschaft zu drehen. Da sie der größte örtliche Verein ist, lässt sich an ihrem Beispiel der Umgang mit dem erzwungenen Wandel, unter dem die soziale Gemeinschaft und ihre Praktiken ihre Selbstverständlichkeit verlieren, begleiten. Es stellten sich Fragen, die die Herausforderungen für den Verein aufzeigen: Ziehen genug Vereinsmitglieder in den Neuort, um die Aktivitäten aufrecht zu erhalten? Wie können diejenigen eingebunden werden, die zukünftig weiter entfernt wohnen? Wie lassen sich stimmungsvolle Feste in einem Neubaugebiet organisieren? Wohin ohne Vereinsheim oder Gemeindezentrum?

Drehbeginn 2019

Die Vorbereitungen für das letzte Fest im Mai 2019 in Keyenberg stellten den Beginn der Dreharbeiten dar. Im Mai 2020 sollte das erste Schützenfest in Keyenberg (neu) stattfinden, dessen Planung und Ausrichtung ebenfalls filmisch dokumentiert werden. Dieses Fest musste aufgrund der Coronapandemie und der damals geltenden Schutzverordnung sowohl 2020 als auch 2021 abgesagt werden. Das hatte Auswirkungen auf das Filmprojekt, welches nicht wie geplant mit der Dokumentation des ersten Festes abgeschlossen werden konnte. Über die Ereignisse im alten Dorf 2019 entstand ein erster Film mit dem Titel „Das letzte Fest. Die St. Sebastianus Schützenbruderschaft Keyenberg siedelt um“ (LVR-ILR 2021). Die Alltagskulturforscher*innen im ILR begleiteten die Bruderschaft durch die Coronazeit weiter mit der Kamera, bis im Mai 2022 das erste Fest im neuen Ort endlich gefeiert werden konnte.

Aus dem Drehmaterial sind zwei weitere Filme entstanden: „Angekommen? Die St. Sebastianus Schützenbruderschaft Keyenberg bewältigt Umsiedlung und Coronapandemie“ und „Das erste Fest. Wie die St. Sebastianus Schützenbruderschaft in Keyenberg (neu) angekommen ist“ (LVR-ILR 2023). Sie thematisieren die Phase des pandemischen Stillstandes, die Suche nach Möglichkeiten, unter diesen Umständen ein Vereinsleben im Neuort zu etablieren, die Planung und Ausrichtung eines Festes unter dem Einfluss der Umsiedlung sowie der Coronapandemie und den Umgang mit Traditionen. Denn für die Schützenschwestern und -brüder steht fest, dass das Vereinsleben im Neuort auch in Zukunft fortbestehen wird.

Die Protagonist*innen der Keyenberg-Trilogie erzählen in diesem interviewbasierten Filmprojekt über die Herausforderungen eines Vereins im Wandel, das Abschiednehmen und die Zukunftsperspektiven, ihre eigene Handlungsmotivation sowie ihr persönliches Heimatverständnis. Die Filmdokumentation bietet einen mikroperspektivischen und audiovisuellen Zugang und steht im Kontext der aktuellen Forschungen zum Strukturwandel im Rheinischen Braunkohlerevier, die vom LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte betrieben werden.

Alle drei Filme sind auf dem Youtube-Kanal Alltagskulturen im Rheinland zu sehen.

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