Der Keyenberger Karnevalsverein Grubenrand Piraten e. V. veranstaltet 2020 seinen ersten Karnevalsumzug durch den Umsiedlungsort Keyenberg (neu) (© Foto: Anja Schmid-Engbrodt)

Tagebau Garzweiler 2012: Der erste Blick ins Loch (© Foto: Yannick Rouault)

Welche Geräusche, Klänge, Töne prägen das Rheinische Revier? Kann man Strukturwandel auch hören? Diese Fragen untersucht das Projekt „Soundscapes – Wie das Rheinische Revier klingt“. Das Projekt dokumentiert das hörbare kulturelle Erbe einer Region im Wandel; initiiert wurde es vom LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte (LVR-ILR). Ziel ist der Aufbau eines Soundarchivs, das allen Interessierten nicht nur spezifische Geräusche zugänglich macht, sondern auch die Geschichten und Erinnerungen, die damit verbunden sind. Geschichten, wie beispielsweise die vom „Scheppern“ im Container, in den all die Dinge geworfen werden, von denen man sich beim Umzug trennen will oder trennen muss. Ein „Sound des Abschieds“, der den Nachbarn verrät, das ein weiteres Haus im Umsiedlungsort aufgegeben wird:

Das Projekt versteht „Sounds“ als Oberbegriff für Klänge, Einzelgeräusche oder ganze Klangteppiche. Töne aus der Natur sind ebenso gemeint wie technische Geräusche, Stimmengewirr und Rufe – im weitesten Sinne also auch Aspekte der zwischenmenschlichen Kommunikation. So ist zum Beispiel ein lokalspezifischer Karnevalsruf bereits in das Soundarchiv aufgenommen worden: das langgezogene „Bretloof“ des Vereins „Keyenberger Grubenrand Piraten“. Als kleines Karnevalsritual trägt der Ruf dazu bei, das Wir-Gefühl der Vereinsmitglieder und der Ortsbewohner*innen zu stärken. Eine Funktion, die beim ersten Karnevalszug nach der Umsiedlung in den Ort Keyenberg (neu) eine besondere Wirkung entfaltete, denn Bräuche können gerade in Zeiten des Umbruchs Vertrautheit und Identität stiften. Wer sich jetzt übrigens fragt, was „Bretloof“ bedeutet: Es meint wörtlich „breiter Lauch“ und ist in den rheinischen Dialekten rund um Köln, Bonn und Aachen die Bezeichnung für Porree.

Das LVR-ILR nähert sich der klanglichen Alltagswelt im Revier über Tonaufzeichnungen, Beobachtungen und Interviews mit Menschen, die dort leben. Für viele ist der Schaufelradbagger mit seinem charakteristischen „Quietschen“ und „Schaben“ ein Symbol für die gewaltigen Ausmaße des Tagebaus. Wenn er Mengen von Abraum und Kohle transportiert, ist das weithin zu hören – davon berichtet zum Beispiel eine Interviewpartnerin, die in der Nähe von Kerpen aufgewachsen ist:

„Ich kann mich gut erinnern, wenn ich als Kind im Bett lag, dass mich dann immer das Geräusch des Baggers begleitet hat, wenn ich eingeschlafen bin ...“

Die Zitatgeberin assoziiert hier weder die massiven Eingriffe in die Landschaften und Dörfer der Region, noch Fragen der Umsiedlung, des Klimawandels und der Energiewende oder die technischen Seiten der Braunkohlegewinnung. Ihre Erinnerung trägt sie vielmehr zurück in eine eher beschauliche, häusliche Szene: Das abendliche Einschlafen, als die Monotonie des fernen Geräuschs ein vertrauter Begleiter war und fast schon beruhigende Wirkung entwickelte.

Diese individuelle Soundgeschichte ist ein gutes Beispiel dafür, dass Geräusche, Klänge, Laute und Töne weitaus mehr als nur Schallwellen sind, die mit naturwissenschaftlichen Methoden gemessen werden können. Aus kulturanthropologischer Perspektive sind solche Sounds immer an die menschliche Wahrnehmung gekoppelt und haben eine kulturelle und soziale Dimension. Mit anderen Worten: Wir hören ein Geräusch nicht nur, wir deuten es, ordnen es ein, laden es mit Werten und Bewertungen auf. Und wie wir das tun, ist kulturell erlernt, beruht auf Erfahrungen. Die zitierte Erinnerung an den Bagger belegt, dass die Deutung eines Geräuschs keineswegs für alle dieselbe Bedeutung haben muss oder seine Bedeutung unveränderbar ist. Ein maschineller, technischer Klang, der auf andere vielleicht störend und bedrohlich wirkt, entfaltet unter bestimmten Umständen eben genau die konträre Wirkung.

Die Bedeutung des Hörsinns für unsere Welterfahrung wird oftmals unterschätzt, weil unsere Kultur stark visuell geprägt ist und der Sehsinn dominiert. Dabei tragen akustische Phänomene im hohen Maße dazu bei, dass wir uns in unserer Umwelt orientieren können. Lässt sich vor diesem Hintergrund eine spezifische Klanglandschaft des Rheinischen Reviers ausmachen? Finden Sie es heraus!

Erste Soundgeschichten aus dem Projekt haben wir auf unserer Website veröffentlicht. Erkennen Sie die Region in den Soundbeispielen wieder? Oder möchten Sie uns auf Ihren persönlichen Sound des Reviers aufmerksam machen? Unter dem Link finden Sie eine Kontaktadresse, unter der Sie sich bei uns melden können. Ausgewählte Soundgeschichten werden in einer Wanderausstellung veröffentlicht. Sie kombiniert Audiodateien mit Fotos aus dem Revier und Interviewzitaten von Menschen, die dort leben. Kurze erklärende Texte bieten Hintergrundinformationen zu den individuellen und kollektiven Bedeutungen der Sounds.

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