Blick in den Hambacher Wald im Jahr 2022 (© Foto: Robin Peters, LVR-ABR)

Tagebau Garzweiler 2012: Der erste Blick ins Loch (© Foto: Yannick Rouault)

Bäume, die die Welt bedeuten

Mit den Protesten gegen den Braunkohletagebau Hambach und als Symbol der Klimabewegung wurde der Hambacher Wald zu „Bäume[n], die die Welt bedeuten“. Doch während die Geschichte des Protestes vielfach aufgearbeitet wurde, ist der Geschichte des Waldes bislang erstaunlich wenig Aufmerksamkeit zugekommen. Es lohnt sich jedoch, den zahlreichen modernen Mythen und gefühlten Wahrheiten um den Wald nachzugehen. Eine davon betrifft sein Alter.

Die Öffentlichkeit scheint mehrheitlich der übereinstimmenden Meinung zu sein, dass der Hambacher Wald 12.000 Jahre alt ist. Diese Zahl findet sich in Veröffentlichungen der Klimaschutzbewegung, bei Umweltorganisationen, Medien, wie dem WDR oder dem Deutschlandfunk, in den Ausgaben (über)regionaler Zeitschriften und Tageszeitungen als auch in internationalen Medien wie der New York Times. Dabei beginnen die wenigen Publikationen zu seiner Geschichte meistens erst mit dem Einsetzen der ersten schriftlichen Urkunden vor rund tausend Jahren. Sie berücksichtigen also nicht die Zeit von der Urgeschichte bis in das Frühmittelalter, aus der kaum oder keine Aufzeichnungen überliefert sind. Der Frage, ob der Hambacher Wald mehrere tausend Jahre alt ist, kann man sich daher nur durch archäologische und archäobotanische Quellen annähern.

Aber was ist gemeint, wenn man vom Alter eines Waldes spricht? Zum einen kann man das Alter der Bäume untersuchen. Heute sind die ältesten Bäume im Hambacher Wald ca. 350 Jahre alt. Diese Antwort geht aber am Kern der Frage vorbei – auch das Alter einer Stadt würde man nicht an ihren ältesten Bewohner*innen festmachen. Vielleicht ist es daher besser zu untersuchen, seit wann ein Gebiet bewaldet ist. Hier stößt man auf das Problem, dass der Begriff Wald definiert werden muss und umstritten ist, ab wann eine Fläche mit Bäumen als Wald anzusprechen ist. Auch historisch wurden unter Wald sehr unterschiedliche Landschaften verstanden. Die Wälder in Mitteleuropa sind Mensch-Umwelt-Systeme: Ökosysteme, in denen der Mensch mit der Natur interagiert und die von Menschen sozial, kulturell und juristisch konstruiert werden. Daher kann man auch fragen: Wann hören wir zum ersten Mal von einem bestimmten Wald? Ab wann wird einem Wald ein Name gegeben, und ab wann werden mit ihm bestimmte Vorstellungen verbunden? Ab wann entwickelt sich ein bestimmtes Mensch-Umwelt-System?

Schematische Darstellung der Waldausdehnung im Gebiet der „Bürge“ 1806/07 und heute (© Karte: Katharina Franzen, Robin Peters, LVR-ABR)

Eine kurze Mensch-Umwelt-Geschichte des Hambacher Waldes

Wie die Vegetation auf der Jülich-Zülpicher Börde vor 12 000 Jahren aussah,
lässt sich durch pollenanalytische Untersuchungen beantworten. Unter Sauerstoffabschluss, z. B. in Mooren oder verlandeten Seen können die Hüllen von Blütenstaubkörnern mehrere Tausend Jahre erhalten bleiben. Für das Gebiet der Bürge wurde bislang kein Pollenarchiv analysiert, jedoch liegen Untersuchungen für Orte im Kreis Düren vor, die ebenfalls Auskunft über die Vegetation im Gebiet des Hambacher Waldes geben können.

Vor 12.000 Jahren, also um 10.000 v. Chr. in der jüngeren Dryaszeit, ist die Rheinbörde eine offene Tundra-Steppe. Auf dem Dauerfrostboden wachsen inselartig kleinere Gruppen von Birken und Kiefern. Erst im Verlauf des ab 9.500 v. Chr. beginnenden Holozäns beginnt die eigentliche Bewaldung der Lössbörde. Vor ca. 7.000 Jahren, ist die ganze rheinische Lössbörde von einem dunklen, dichten Lindenwald bedeckt. Rodungen für Siedlungen und Felder gleichen Inseln in einem großen Waldmeer. Aber bereits um 250 v. Chr., in der späten Eisenzeit, haben Rodung und Beweidung den dichten Wald in eine parkähnliche Offenlandschaft verwandelt. Auch die Bürge ist in der Eisenzeit nicht von einem Großwald bedeckt.

Von den Römern wird das Gebiet, das wir heute als Hambacher Wald bezeichnen, landwirtschaftlich sehr intensiv genutzt. In Abständen von einem bis anderthalb Kilometern befinden sich römische Gutshöfe. Die Bürge ist damals kein Wald, sondern Agrarland mit nur lokalen kleinräumigen Wäldchen. Ab der Mitte des 3. Jahrhunderts werden viele dieser Höfe aufgegeben und es entstehen Buchen-, Hainbuchen- und Eichenwälder. Die Bürge wird in spätrömischer Zeit aber auch immer noch wirtschaftlich genutzt. Landgüter sind jetzt häufig auf die holzintensive Glasherstellung spezialisiert. Sowohl die Untersuchung von Pollen und Holzkohlen als auch die archäologischen Hinweise auf eine holzverbrauchende Industrie sprechen dafür, dass es in spätrömischer Zeit auf der Bürge einen Großwald gegeben hat. Die Annahme einer Waldkontinuität von der Mitte des 3. Jahrhunderts bis in die heutige Zeit erscheint daher sehr plausibel. Der Hambacher Wald wäre somit ca. 1.750 Jahre alt.

In fränkischer Zeit wächst auf der Bürge ein naturnaher Buchen- und Hainbuchenwald. Die frühmittelalterlichen Siedlungen konzentrieren sich auf die guten Ackerböden im Umland der lössarmen, staunassen Bürge. Viele Autor*innen nehmen daher an, dass der Bürgewald in dieser Zeit, im 5.-6. Jahrhundert, entstand. Im Frühmittelalter ist der Wald auf der Bürge ein rechtlich geschützter Bannwald, der u. a. der adeligen Jagd diente. Für das Jahr 973 ist die älteste schriftliche Nennung des Bürgewaldes als „burgina“ überliefert. Auf diese Nutzungsänderung vom „Königsforst“ zum Wirtschaftswald bezieht sich auch die Legende um den heiligen Arnoldus. Arnold, ein Sänger am Kaiserhof, Karl den Großen soll gebeten haben, den notleidenden Bewohnern der Bürge so viel Wald zu schenken, wie er während der Dauer eines Mahls umreiten könnte. Mit Hilfe eines Staffelritts gelingt es Arnold einmal um den ganzen Wald zu reiten, der seitdem von den anliegenden Dörfern genutzt werden darf. Verortet man die Entstehung des Bürgewaldes im 9.–10. Jahrhundert, so wäre der Wald maximal ca. 1.200 Jahre alt.

Waldbestand und -alter im Hambacher Wald im Jahr 1975 (© Karte: Katharina Franzen, Robin Peters, LVR-ABR; nach dem ökologischen Gutachten von Forstdirektor H. Aden)

Hin zu einem multidimensionalen Bild vom Wald

Der Hambacher Wald ist also keine 12.000 Jahre alt; eine Waldkontinuität besteht nicht seit der letzten Eiszeit, sondern vermutlich ab der Mitte des 3. Jahrhunderts oder der Merowingerzeit. Aber warum heißt es an so vielen Orten, der Hambacher Wald sei 12.000 Jahre alt? Vielleicht geht die Annahme auf die missverstandene Aussage zurück, der Bestand an Winterlinden (und Ulmen) im Hambacher Wald sei ein „Relikt“ aus einer wärmeren, etwa 3.000 Jahre zurückliegenden „Waldzeit“. Dabei impliziert das „Relikt“ jedoch keine Waldkontinuität. Möglicherweise handelt es sich nur um einen banalen Zahlendreher, durch den aus 1.200 Jahren 12.000 Jahre wurden.

Interessant ist auch die Frage, warum das Alter des Waldes als Argument überhaupt so wichtig geworden ist. Ohne Zweifel handelt es sich um einen Traditionsverweis; um die Schutzwürdigkeit und Natürlichkeit des Waldes hervorzuheben, wird ein geradezu mythisches Alter heraufbeschworen. Der entscheidende Punkt ist aber: Das geringere Alter des Waldes schmälert nicht seine Schutzwürdigkeit. Nicht die Abwesenheit menschlichen Einflusses hat ein diverses und artenreiches Ökosystem entstehen lassen, sondern die menschliche Interaktion. Wer den Hambacher Wald als Urwald bezeichnet, macht es sich zu einfach und ignoriert den verschlungenen, komplizierten und häufig widersprüchlichen Charakter der Mensch-Umwelt-Interaktion: Die besonders schützenswerten Altwaldbestände im Hambacher Wald, die Lebensraum für viele seltene Tier- und Pflanzenarten waren, sind aus der Bewirtschaftung hervorgegangen. Aber auch die im Wald gelegenen Klärbecken der modernen Zuckerindustrie waren als Brut-, Nahrungs- und Raststätte für die lokale Vogelwelt von großer Bedeutung. Nach dem Kauf durch die Rheinbraun/RWE Power AG entwickelte sich der südliche Teil des Waldes sehr naturnah, gerade weil seine Devastierung als beschlossen galt.

Die Debatte um den Hambacher Wald wurde vor allem von Vorstellungen, was einen Wald ausmacht, bestimmt. Insbesondere der Mythos eines „natürlichen, wilden, unwandelbaren“ Waldes, ist in Deutschland tiefverwurzelt. Anstatt jedoch auf das große Alter und den vermeintlichen Urwald-Charakter des Bürgewaldes zu pochen, der eine Verklärung der Vergangenheit als „statisch“ und „natürlich“ impliziert, könnte man auch die lange und dynamische gemeinsame Geschichte von Mensch und Wald betonen. Zum Beispiel, indem man auf die gutbelegte Tatsache verweist, dass der Wald schon seit dem Mittelalter geschützt werden musste, um erhalten zu bleiben. Nicht die vermeintliche Unberührtheit, sondern gerade die Interaktion mit den Menschen prägte die Identität des Bürgewaldes. Die Geschichte des Hambacher Waldes ist keine eines seit Urzeiten unberührten Urwaldes, sondern eine von Bäumen und Menschen.

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