Die Bagger kommen – eine Kindheit im Dorf Epprath
Im Verlauf der Jahre veränderte sich das ehemals idyllische Landschaftsbild um unsere Ortschaft, denn gleich drei Braunkohlegruben rückten näher. Da war im Osten der Tagebau Neurath, im Süden Fortuna und im Norden Frimmersdorf. Die weitläufigen Ackerflächen wurden von riesigen Baggern abgetragen. Die Erft, ein ruhig dahinfließender Fluss, wurde in ein neues Bett verlegt. Zuvor hatte sie sich durch den Altwald, mit seinen dichten Sträuchern, dicken Eichen- und Pappelbäumen, hinter der Wiese an unserem Garten vorbeigeschlängelt. Die angrenzenden Wälder mussten jedoch abgeholzt werden, um die darunterliegende Braunkohle für die Stromgewinnung zu fördern. Somit stand auch die Umsiedlung der an die Tagebaue angrenzenden Ortschaften fest.
Der Sportplatz in Harff wurde zum Montageplatz für die riesigen Schaufelradbagger. Ebenfalls der Acker hinter der Marienkapelle Richtung Harff. Lärmend wurden tiefe Brunnen für die Tagebauentwässerung ins Erdreich gebohrt. Gerätschaften und Arbeitsmaschinen der Tagebaubetreiber gehörten zum Alltagsgeschehen rund um unser Dorf. Durch die Baggermontageplätze in Dorfnähe waren auch viele Monteure in den Gasstätten oder auch in privaten Haushalten untergebracht. Vermehrt tauchten fremde Männer in unserem Dorf auf, die jedoch schnell bekannt waren und somit bald mit zur Dorfgemeinschaft zählten. Der eine oder andere Monteur fand in den umliegenden Ortschaften seine große Liebe und blieb weiterhin bei uns in der Gegend, obwohl der große Bagger schon lange seinen Betrieb aufgenommen hatte.
Spielplatz Abbaukante
Für mich als Zwölfjährigen gehörte diese Landschaftsveränderung zum täglichen Lebensrhythmus und ich akzeptiere sie, ohne mir viele Gedanken darüber zu machen. Ich konnte weiter mit meinen Freunden spielen, aber die Orte unserer Abenteuer veränderten sich: In dem zum Teil schon abgeholzten Waldgebiet ließen sich nicht mehr so schöne Verstecke im Gebüsch errichten. Baumhäuser zu bauen, wurde durch das Fällen der alten und verzweigten dicken Bäume auch immer schwieriger. Dafür bekamen wir am Tagebaurand durch die riesigen Schaufelradbagger eine Abbaukante, die in unserer Fantasie zur Felswand wurde. Diese zu erklimmen oder zu überwältigen, war für uns eine Herausforderung, die wir als Bergsteiger mit Seil und Hacke in mühevoller Arbeit bezwingen mussten. Es gelang uns jedoch in den seltensten Fällen, da der Schaufelradbagger die zuvor gegrabene Treppe in der steilen Wand stets wieder wegbaggerte.
Mein Freund Freddy hatte die Idee, mit einem Fallschirm die meterhohe Böschung herunterzuspringen. Mit einem aufgespannten Regenschirm in der Hand war das jedoch nicht zu bewältigen, also musste etwas Größeres her! Auf einer nahegelegenen Baustelle der großen Schaufelradbagger entdeckten wir eine passende Plastikfolie. Es kostete uns mehrere Anläufe, zusammen mit unseren Spielkameraden Dieter und Manfred den Wachmann der Baustelle zu überwinden. Doch schließlich hielten wir die begehrte Plane in den Händen.
Am anderen Tag, direkt nach der Schule, schnitten wir sie in Opas Scheune zurecht. Der Fallschirm sollte schön groß sein, damit unser Vorhaben gelingen konnte. Die passenden Schnüre waren schnell gefunden: Onkel Anton, der Bauer nebenan, hatte eine große Rolle Kordel zum Binden der Ährengarben in seinem Schuppen und das Fehlen einiger Meter Kordel aus dem Rolleninneren würde nicht auffallen. Auch fanden wir dort ein altes Pferdegeschirr, um den Springer fest mit dem Schirm zu verbinden. Plastikfolie, Kordel und Geschirr ergaben nach unserem Dafürhalten die richtige Kombination zum Fallschirmspringen.
Nach einigen Tagen war die Zeit für den ersten Sprung gekommen. Von uns mittlerweile fünf Jungens sollte zuerst Freddy an der Reihe sein, denn schließlich hatte er die Idee gehabt. Wir legten ihm das Geschirr an, überprüften sorgfältig die Verbindungen und führten ihn an die Abbaukante. Vor ihm lag eine beachtlich hohe Sandböschung; um von dieser herunterzuspringen, brauchte man einigen Mut. Nach kurzem Zögern sprang Freddy in die Tiefe, doch der Fallschirm öffnete sich nicht. Freddy landete unsanft im Sand, wo er regungslos liegenblieb. Zum Glück erreichten wir ihn schnell über die von uns in die Böschung gegrabene Treppe. Unten angekommen konnten wir aufatmen, denn Freddy hatte den Sprung bis auf ein verstauchtes Handgelenk gut überstanden. Das Fallschirmspringen verfolgten wir danach jedoch nicht weiter.
Der Tagebaurand und die Abbaukante wurden zu unserem neuen Spielplatz. In das feste Erdreich der steilen Böschung gruben wir Höhlen, die ca. eineinhalb Meter tief und einen Meter breit sowie hoch waren. Zwei bis drei Jungens hatten in einer solchen Höhle Platz und waren vor Wind und Wetter geschützt – natürlich nur so lange, bis der Schaufelradbagger seine Arbeit verrichtet hatte. Danach fing die Arbeit wieder von vorn an. Mein Freund Jupp und ich hatten gerade wieder damit begonnen, eine neue Höhle zu bauen, wobei wir teilweise auf dem Bauch liegend arbeiteten. Wir wechselten uns ab und während Jupp grub und ich pausierte, stürzte plötzlich ein Teil der Höhlendecke zusammen. Jupp wurde mit dem Kopf und Oberkörper unter dem Sand begraben. Ich packte seine Füße und zog an ihnen mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte. Zu unserem großen Glück konnte ich ihn herausziehen und wir kamen beide mit einem riesigen Schreck davon. Wir haben dann alle erkannt, wie gefährlich es ist, im Tagebau zu spielen. Daraufhin verlagerten meine Freunde und ich unsere Abenteuer wieder in den Restwald und in die Scheunen der Bauern.