Yannick Rouault beim Fotografieren in Manheim (© Foto: Markus Lompa)

Tagebau Garzweiler 2012: Der erste Blick ins Loch (© Foto: Yannick Rouault)

Dass es Manheim geworden ist, war eigentlich ein großer Zufall. Es hätte auch Immerath, Lützerath oder Morschenich werden können.

Als ich 2012 als 19-Jähriger das erste Mal zu Besuch ins Rheinland kam, hatte ich bis dahin noch nie etwas vom dortigen Braunkohleabbau gehört. Aufgewachsen bin ich in einem Vorort von München mit den Alpen in unmittelbarer Nähe. Weit entfernt also von den riesigen Tagebauen, den Abraumbergen und den Umsiedlungsdörfern des Rheinischen Braunkohlereviers. Wahrscheinlich hat mich deswegen der erste Besuch im Rheinland so sprachlos zurückgelassen, weil es so gänzlich anders aussah, als alles, was ich bis dahin kannte.

Zusammen mit meiner besten Freundin, die mit Blick auf das Kraftwerk Niederaußem groß geworden war, fuhren wir bei meinem ersten Besuch 2012 durch die Region, warfen einen Blick in den Tagebau Garzweiler und kamen an der bereits weitestgehend verlassenen Ortschaft Immerath vorbei.

Tagebau Garzweiler 2012: Der erste Blick ins Loch (© Foto: Yannick Rouault)

Das Schicksal der bergbaubedingten Umsiedlungen ließ mich seither nicht mehr los und bei einem meiner nächsten Besuche entschied ich mich dazu, die Umsiedlung und den Abriss eines dieser Dörfer mit meiner Fotokamera festzuhalten.

Aus der Ferne hatte ich recherchiert und mir vier potenzielle Dörfer aufgeschrieben: Lützerath, Immerath, Morschenich und Manheim. An einem heißen Sommertag im Jahr 2016 fuhren wir durch alle diese Dörfer und in Manheim wusste ich sofort: Das ist es! Dieses Dorf will ich mit meiner Kamera begleiten!

Im zur Stadt Kerpen gehörenden Ort lebten damals nur noch circa ein Drittel der ursprünglich 1.700 Bewohner*innen. Die Umsiedlung nach Manheim (neu) hatte 2012 begonnen. Das Dorf wirkte deswegen schon bei unserem ersten Besuch sehr verlassen. Dennoch spürten wir sofort die „Seele“ dieses besonderen Orts. Direkt neben dem Hambacher Wald gelegen war dieser über ein Jahrtausend alte Ort mit seiner Größe über die Zeit zu einem Zentrum für die umliegenden Dörfer herangewachsen. Vor Beginn der Umsiedlung gab es in Manheim eine Grundschule mit Schwimmbad, einen Kindergarten, eine Feuerwehr, ein Schützenheim, mehrere Gaststätten, zwei Bankfilialen und Geschäfte des täglichen Bedarfs.

März 2017: Kirschblüte am Feuerwehrhaus (© Foto: Yannick Rouault)

März 2017: Kirschblüte am Feuerwehrhaus

Und in der Nähe des Marktplatzes thronte stolz die mächtige, für die Region so typisch aus Backstein gebaute Kirche St. Albanus und Leonhardus.

Im Sommer 2016 wirkte dieser besondere Ort verlassen und doch lebendig. Den Widerspruch und die einzigartige Seele von Manheim wollte ich in meinen Bildern festhalten. Bei meiner Arbeit entstanden emotional-poetische Momentaufnahmen von Verfall und Einsamkeit. Alle zwei bis drei Monate kam ich von München aus für ein paar Tage ins Rheinland und hielt fest, wie sich das Ortsbild von Manheim verändert hatte. Dabei ging ich rein intuitiv vor und ließ mich davon leiten, welche Geschichten mir die Häuser zum Zeitpunkt meines Besuchs erzählen wollten.

Im Dezember 2016 begann man mit den Abrissarbeiten, die vor allem 2018 und 2019 massiv beschleunigt wurden. Wahrscheinlich auch, um Fakten zu schaffen in der damals stattfindenden Diskussion um einen früheren Kohleausstieg und einen möglichen Erhalt von Umsiedlungsorten. Ich musste mich also damit abfinden, dass bei jedem Besuch ein weiterer großer Teil von Manheim für immer verschwunden sein würde.

Und doch: Nicht alles verschwand in Manheim im selben Tempo. Bei der Durchsicht meiner Bilder für die erste Ausstellung 2021 in meiner Heimatgemeinde Ottobrunn fiel mir eine bis dato wenig beachtete Kämpferin am Straßenrand auf, die tapfer die Stellung hielt:

Juli 2018 – Einsame Straßenlaterne vor Esperantostraße 28 (© Foto: Yannick Rouault)

Die Straßenlaterne von Manheim.

Soweit ich recherchieren konnte, muss die flächendeckende Straßenbeleuchtung in Manheim erst in den 1970er/80er Jahren Einzug gehalten haben. Auf der Hauptverbindung durch den Ort über Marktplatz und Forsthaus-/Berrendorferstraße standen die klassischen, etwa 8 Meter hohen, einarmigen Laternenmasten. Doch in den vielen Seitenstraßen und Gassen brannte Nacht für Nacht das, was ich mittlerweile als Manheimer Licht bezeichne:

Die 4,20 Meter hohe, meistens mit achteckigem Waschbeton verkleidete Kugelleuchte, die ich bisher noch in keinem anderen Ort habe stehen sehen.

Für mich sind die Straßenlaternen mehr als ein Objekt. Sie sind ein Symbol für die Erinnerungen. Während das Dorf mittlerweile weitestgehend verschwunden ist, leuchtet das Licht von Manheim unbeirrt jede Nacht weiter, genauso wie die Erinnerungen der früheren Bewohner*innen an ihr Heimatdorf weiterleben werden.

Januar 2023 – Die Straßenlaternen leuchten weiterhin jede Nacht in der Forsthausstraße (© Foto: Yannick Rouault)

2021 stellte ich die Bilder aus meiner Manheim-Fotoserie erstmals im Rathaus meiner Heimatgemeinde aus; 2022 folgte eine Ausstellung in Köln. Mit meinen zweidimensionalen Fotografien fühlte ich mich aber schnell limitiert in meiner Erinnerungsarbeit an ein verschwindendes Dorf. Ich wünschte mir dreidimensionale Objekte, die dem Dorf seinen verlorenen Raum zurückgeben. Für die dritte Ausstellung in der Stuttgarter Raumgalerie lag nichts näher, als eine zentrale Figur aus meinen Bildern zum Leben zu erwecken.

Leandra Scheible, eine Freundin, die Szenenbild an der Filmakademie Ludwigsburg studiert, ließ sich sofort für die Idee begeistern und erschuf das Kunstobjekt „Manheimer Licht“, das in seiner Detailtreue so perfekt gelungen ist, dass wir bei dieser und den folgenden Ausstellungen oft gefragt wurden, wie wir denn auf legalem Wege an die originale Straßenlaterne gekommen wären und wie man so ein Ding transportiert.

März 2023 – Das „Manheimer Licht“ erhellt die Raumgalerie in Stuttgart. Am Boden ist ein Plan von Manheim angebracht, der das Dorf wieder „begehbar“ macht. (© Foto: Yannick Rouault)

Mittlerweile bin ich von München nach Köln gezogen und widme mich in Vollzeit meiner Kunst. Das „Manheimer Licht“ steht neben meinem Schreibtisch im Kölner Büro und erhellt mich jeden Tag aufs Neue. Ab und an nehme ich es mit auf große Reise an Ausstellungsorte in Deutschland. Dann erzählt es zusammen mit meinen Fotografien die Geschichte eines verschwundenen Dorfes, das weiterlebt, solange das Manheimer Licht leuchtet.

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